Lief nicht einmal im Hintergrund: "Wetten dass...?" |
Mein Gott, abends kam „Wetten dass…?“, und hätten die
Zuschauer im Cockpit am 5. April gewusst, dass Lanz die Bombe platzen lassen
und verkünden würde, dass die Show nach über 30 Jahren leider endlich
eingestellt würde, wer weiß, ob überhaupt Gäste gekommen wären. Wer weiß, ob
ich nicht mit einer Tüte frittierter Hahnenkämme vor dem Fernseher gesessen und
bittere Tränen geweint hätte. Vermutlich schon vor der Verkündung. Wie schade,
dass mir dieses Elend erspart geblieben war, den ich war im Cockpit. Und mit
mir 11 Wortkünstler und Sprachakrobatinnen. Und natürlich gut 80 Besucherinnen
und Besucher. Und es sollte einer der sensationellsten Reichelsheimer Poetry
Slams werden.
Könnte Straßenmusiker reich machen: Sebastians Hut |
Musikalisch eingestimmt wurden wir von Sebastian Barwinek, der uns ganz prächtig mit seiner unverkennbaren Stimme unterhielt.
Deutsches, Bretonisches, Alt-Englisches, Irisches. Stücke aus fremder, aus
eigener Feder. Und das alles auf der irischen Bouzouki. Ein Fest. Ein so
eingestimmtes Publikum übernimmt man als Moderator gerne. Nach der
obligatorischen Frage, wer schon einmal auf einem Poetry Slam war (Nein, ich
werde nicht müde mit dieser Frage eine tief in jeden Slam Master eingeimpfte
Neugierde zu befriedigen), stellte ich fest, dass ein Großteil nicht nur am
Abend den ersten Slam in Reichelsheim erleben würde, sondern ganz und gar den
ersten Poetry Slam überhaupt. Die Regeln waren schnell erklärt und schon konnte
die Auslosung der ersten Vorrunde beginnen. Thorsten Zeller aus Friedberg, Mary
Grebner aus Bad Nauheim und Nils Früchtenicht aus Kassel wurden die ersten
Wortfechter, die gegeneinander um die Gunst des Publikums antreten durften.
Vor leerer Wertungstafel und Finaleinzug: Nils |
Thorsten, der beim letzten Slam vom Publikum vermisste
wurde und das erste Mal für dieses Jahr wieder bei uns war, eröffnete den Slam
mit einem gereimten sozialkritischen Text um vietnamesische Enten und
zerbrochene Fensterscheiben. Mary Grebner aus Bad Nauheim folgte mit einem
Gedicht über Freiheit, mit dem sie übrigens ihren 11. Auftritt im Cockpit
hatte. Gefolgt von Thorsten, der an diesem Abend seinen siebten hatte, gibt es
niemanden, der bislang so kontinuierlich und treu die Reichelsheimer
Cockpit-Kanzel betrat. Dennoch reichten auch 18
Auftritte in Summe nicht, um dem Kasseler (Kassulaner? Kassuläner? Ich
weiß nicht, hätte fragen sollen!) den Finaleinzug zu verwehren. Die meisten
Tische stimmten über ihre Bewertungszettel für den emotionalen Glücksritter und
in seine Mitbewohnerin Verliebten.
Referiert über die Worschd: Patrick |
In der zweiten Vorrunde maßen sich Jonas Wagner-Heydecke
aus Lißberg, Florian Böhm aus München, Dichter Dran aus Frankfurt am Main und
Patrick Leonhard, ebenfalls aus Lißberg. Jonas nutzte das Mikro, um über das
Web 2.0 und Handy-Apps herzuziehen, gefolgt von Florian, der über das Verlassen-Sein
und Verlassen-Werden sprach. Den anschließenden Auftritt nutzte Dichter Dran,
der man die Freude beim Improvisieren deutlich anmerkte, als sie nach vier
zugerufenen Wörtern zu texten begann. Wer hätte gedacht, was man mit Schnitzeln,
Orangen, Dieben und Kalligraphiestiftesets (mein Begriff, verzeihung!) bei
einem Date so alles anfangen kann. Patrick endete die zweite Vorrunde mit
Stand-up-Comedy auf hessisch. Zwar war die „Worschd“ ruckzuck warm, doch konnte
der Lißberger nicht verhindern, dass mit Florian der erste Oberbayer in der
vierjährigen Veranstaltungsgeschichte in das Reichelsheimer Dichterfinale
einzog.
Vegetarisch: Vorne Nelken, hinten Korn |
Nach der Pause, in der wie auch schon vor der
Veranstaltung vortrefflich von Sebastian unterhalten wurde, trat das nächste
Dichterquartett gegeneinander an: Tobias Rinker aus Nidda, Kaddi Cutz aus
Dresden, Peter Müller aus Friedberg und Artur Nevsky aus Roßbach. Tobi
berichtete von seinem Alltag, offenbar bestehend aus Korn und verliebten
Ampelmännchen (An dieser Stelle bedanke ich mich für den Vergleich von
Kaulquappen mit adipösen Spermien. Herrlich!) Kaddi trug einen Text über
Erinnerungsmessitum (Erinnerungs-Messi-tum) vor, auswendig und hervorragend
pointiert. Peter folgte mit wunderbaren Gedichten, die metrisch und inhaltlich zu
begeisterten wussten. Auch die Textwahl um Küsse an verbotenen Stellen, Würmer
und Kröten schmälerte das nicht, zumal Tobi ja bereits zuvor erklärt hatte, was
Kaulquappen tatsächlich sind. Die Vorrunde schloss Artur mit einen sehr
bewegenden Text über Vegetarismus und Mutter-Kind-Beziehungen, dessen Twist
trotz Ankündigung überraschte und manch ein Auge geöffnet haben mag. Dennoch
zog Kaddi mit Abstand als Dritte ins Finale ein, und nicht nur für die Erleuchtung
über den einzigen Imperativ in italienischen Speisekarten („Penne mit Lachs in
Sahnesoße“, danke auch dafür!)
Vegane Schoki macht glücklich: Florian, Nils, Kaddi, Andy & Kühe |
Im entscheidenden Vergleich drehten sich alle Texte, wie
als sei zuvor eine Absprache erfolgt oder als habe Artur dazu nachhaltig
inspiriert, um die Mutter-Kind-Beziehung. Auf sehr bewegende Art durch Nils, der
vermeintliche Gegensätzlichkeiten elterlichen Seins auflöste und damit das
erste Mal jemanden aus dem Publikum zum Weinen brachte (zumindest fiel es mir
das erste Mal auf), in nachdenklich stimmender, doch von situationskomischen Momenten
durchzogener Weise durch Florian, der den Vater als letztlich triumphierenden Volkszähler
präsentierte, und als dritte mit viel Lachern und Sich-selbst-Wiedererkennens
durch Kaddi, die mit aufdringlichen Müttern und nicht minder aufdringlichen
Verehrern abrechnete. Mit verdienten Beifallsstürmen ernteten alle drei viel
Anerkennung, doch den anhaltendsten Applaus und damit den höchsten Platz auf
dem Siegertreppchen konnte Kaddi für sich verbuchen. Wie auch schon letztes Mal
gab es köstliche vegane Schokolade, dieses Mal in „pur“, „Mandel“ und „Stracciatella
mit Erdbeere“, sowie einen Bio-Prosecco von unserem Sponsor zu gewinnen. Ja, so
stilvoll und nachhaltig kann man nur bei uns gewinnen.
Ich freue mich schon auf
die nächsten Veranstaltungen: Die Erste offene Stadtmeisterschaft im PoetrySlam am 9. Mai im Theater Altes Hallenbad in Friedberg und den 16. Poetry Slam
in Reichelsheim am 7. Juni 2014, der jedoch von Bene Hegemann moderiert werden
wird, da unser geliebter Moderator (ich) bei Rock im Park head-bangt. Karten sind
bereits erhältlich über reservix.de bzw. über den Ticket-Shop in Friedberg.