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Montag, 5. August 2013

11. Poetry Slam Reichelsheim; Flugbericht



Lena vor den hungrigen Hundert
Als James Hatfield am Vorabend anrief und mich zu seinem Geburtstag einlud, sagte ich: „Hey, Alter, danke, ich weiß es ist ein runder, aber ich kann nicht. Ich moderiere das Poetry-Slam-Saisonfinale in Reichelsheim.“ Er sagte dann noch: „Ride the Lightning!“, und ich antwortete ihm: „Ich hoffe nicht!“ Dann legten wir beide auf. Er reduzierte die bestellte Menge bunter Partyhütchen um eins und ich schaute nochmal in den Wetterbericht und hoffte, James würde nicht recht behalten. Behielt er nicht, denn das Gewitter blieb Reichelsheim fern und bei 30 Grad und Sonne begann sich am Abend des 3. Augusts der Beach Club des Bistro Cockpit in Reichelsheim langsam zu füllen. Unter freiem Himmel und auf grasbegrünter Bühne, umweht von einer leichten Brise, traten sodann neun Dichterinnen und Dichter aus dem ganzen Bundesland, größtenteils Finalistinnen und Finalisten der vorangegangenen Veranstaltungen, an, um letztlich annähernd 100 Gäste mit erfrischenden Lyrikwinden bis hin zu wortgewitternden Dichtkunstorkanen zu umwehen.

Soerens Lyrik aus dem Smartphone
Die erste von drei Vorrunden bestritten Lena Brandt aus Großkrotzenburg, Klaus Urban aus Stadthagen und Soeren Franz aus Bad Nauheim. Lena startete mit einem Text über die Vielfältigkeit, die eine einzelne Person aufweisen kann. Hierbei merkte man ihr ihre Pause, die sie bis zum Abschluss ihrer Abiturprüfung hatte, deutlich an. Charmant erklärte sie dem Publikum, dass sie jedoch keineswegs zittere, sie sei vielmehr eine menschliche Espe. Ihren Auftritt schloss Lena mit einem sehr intensiven Text über ihre Gedanken beim Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Auschwitz. Klaus begann mit der lang gehüteten Preisgabe verschollener Anagramme zu Reichelsheim - Heimlicheres hatte nie zuvor jemand vernommen -, und schloss mit einer poetisch-philosophischen Auseinandersetzung mit Boogie-Woogie. Sören vereinte mit seinen zwei Beiträgen klassische Lyrik mit moderner Technik und übertrug die in Bits und Bytes auf seinem Smartphone gespeicherten Gedichte „Prima Ballerina“ und „Spieglein im Badezimmer“ in Schallwellen. Der Applausentscheid des Publikums, der in Ermangelung einer ausreichenden Anzahl an Tischen zur Durchführung der gewohnten Tischbewertung durchgängig in jeder Vorrunde und im Finale durchgeführt wurde, war knapp und letztlich durch den Moderator Andreas Arnold, der sich hier in der dritten Person nennt, obwohl er Autor des Textes ist und bereits in der ersten Person eingeleitet hatte, kaum eindeutig unterscheidbar. Letztlich entschied er sich (ich) für einen Doppelfinaleinzug von Lena und Klaus.

Gitarre mit Luca im Hintergrund
In der zweiten Vorrunde starteten Luca Del Nero aus Bad Nauheim, Thorsten Zeller aus Friedberg und Jens Wienand aus Mannheim. Luca widmete seinen satirischen Text, in dem er sich zur Bundestagswahl als Partei und Multifunktionär in einer Person mitsamt dazugehörigem Parteiprogramm anbot, der Satiresendung „Scheibenwischer“, was nicht zu überhören war. Thorsten konterte mit einem Sommergedicht, das primär von der Plage durch sechs- und achtbeinige, überwiegend geflügelte Endoskelettträger handelte. Vermutlich war er es, der später, bei Einbruch der Dunkelheit, selbige auch angelockt hatte, doch dazu später mehr. Jens schloss die Vorrunde mit einem durch live in sein zusammengerolltes Textpapier getrötete Filmmusik eingeleiteten Text über den Anbeginn der Zeit und den Anbeginn der menschlichen Dummheit. Durchsetzen konnte sich letztlich Jens, der den anhaltendsten, Freudenpfiffe durchwirktesten Applaus auf sich verbuchen konnte.

Sergio von VZG beim Solo
Die anschließende Pause wurde, wie auch schon die Eröffnung der Veranstaltung, durch die begeisternde Musik der Friedberger Band „Vorstadt zum Garten“ kurzweilig und unterhaltsam gemacht. Sie trommelten, zupften, klimperten, tröteten und sangen, was das Zeug hielt, und mischten zu den sommerlichen Temperaturen und den Urlaubsstimmung fördernden Strandliegen auf echtem Türkische-Riviera-Sand, den Bistro-Chef Cenk aus seinen Urlauben peu à peu mitgebracht und im Beach Club aufgeschichtet hatte, noch heißeste feriengefühlsverstärkende Klänge. Nur mit Mühe konnte ich (er, der Moderator) den vielfachen Ruf nach einer Zugabe niederringen, um mit der dritten Vorrunde starten zu können.

Marco mit verglühender Mücke
In der anschließenden dritten und letzten Vorrunde traten Lukas Lazarewitsch aus Frankfurt am Main, Marco Michalzik aus Herborn und Aaron Schmitt aus Karlsruhe gegeneinander um die Gunst und den entlohnenden Applaus des Publikums an. Lukas trug einen sozialkritischen Text über Menschen vor, die zum Opfer ihrer eigenen Situation gemacht werden. Marco folgte mit einem Plädoyer für Menschlichkeit und befasste sich lyrisch mit dem schweren Thema Kinderprostitution und philosophisch mit der Frage, weshalb das Leben zu manchen so ungerecht ist. Während dessen veranstalteten die zahlreichen von Thorsten lyrisch angelockten Steckmücken ein Grillfest im als Leselicht installierten Deckenfluter. Mit sich selbst als Grillgut. Stichwort: Selbsthass (Exklusives Stichwort für die, die dabei waren). Den Abschluss der Vorrunden machte Aaron, der dieses mal nicht erst in das Odenwälder Reichelsheim gefahren war, um zu uns zu gelangen. Er plapperte scheinbar unsicher vor sich hin und entlockte manch einem im Publikum ein erhellendes Schmunzeln als realisierbar wurde, dass das unsichere Plappern Thema seines Textes war und selbiges nur ein Stilmittel und nicht Aarons Eigenart. Dafür erhielt Aaron auch den meisten Applaus und hatte sich so als letzter Teilnehmer ins Finale geplappert.

Jens mit rauchenden Schwärmen
Lena eröffnete das Finale mit einem Text über die Erfüllung von Erwartungshaltungen und schloss mit einem zweiten über die Wortkarg- und Unverstandenheit von endenden Beziehungen. Klaus folgte mit zwei Stücken aus seiner Kurzromanreihe und ließ mit „Liebe ist eine Tätigkeit“ ein Wortfeuerwerk auf das Publikum los. Als Dritter startete Jens ins Finale und referierte humorvoll, doch nachdenklich stimmend über die Fragwürdigkeit unserer Systeme. Den Abschluss machte Aaron mit einem Gedicht für alle, denen es an Zeit und Geld mangelt und die so auf der Stelle zu reisen gezwungen sind. Die Finaltexte waren allesamt hoch unterhaltsam und qualitativ sehr ausgereift, so dass es erneut wiederholter Applauseinforderungen durch den Moderator bedurfte, bis eine Publikumsentscheidung festgestellt werden konnte. Der dritte Platz ging nach Stadthagen, der zweite nach Karlsruhe und die Trophäe für den ersten Platz des diesjährigen Saisonabschlusses mit Jens Wienand nach Mannheim. Auch hier zur Erinnerung an die beinahe erfolgte Fehlentscheidung des Saisonsieges ein kleiner Insider: Wenn der Moderator mit den Fingern eine Zwei zeigt und damit den Applaus für den Ersten der beiden bis dahin den meisten Applaus auf sich vereint Habenden einfordert und der Erste, der bei Applauseinforderung wie auch der Zweite mit dem Rücken zum applaudierenden Publikum stehen musste, eine Zwei zeigt, weil er den zweiten Applaus für den lautesten erachtet hatte, dann ist, wenn auch mathematisch richtig, zwei nicht gleich zwei, sondern eins. Das versteht jetzt zwar niemand, der nicht dabei war, und ich selbst bin auch immer noch völlig verwirrt darüber, aber die, die dabei waren, werden sich erinnern, lachend auf ihre Schenkel klopfen und zu sich selbst sagen: „Ja, da hat er einen gerissen, der Herr Moderator, und beinahe den Zweitplatzierten zum Sieger erklärt!“, und der Herr Moderator wird daraufhin kräftig mit auf die eigenen klopfen und dem zustimmen.

Siegerehrung im Dunkel mit Trophäen
Unsere neue Saison startet am 11. Oktober 2013 im Bistro Cockpit. Wer mehr Bilder des schönen Abends sehen will, ist eingeladen, unsere Facebook Seite zu besuchen. Und abschließend auch noch ein Wort  zur Veranstaltung selbst: Die Veranstaltung ist und bleibt gemeinnützig. Wir wollen Künstler und Kunst fördern, und deshalb kommt alles, was wir einnehmen, den Künstlern und der Kunst zugute: Fahrtgeld, freie Kost und Logis, Workshops, eine kleine Gage, wenn was übrig ist. Deshalb hier an dieser Stelle einen ausdrücklichen Dank an unsere Sponsoren, ohne die eine solche Veranstaltung auf dem Land kaum möglich wäre. Danke, Danke, Danke. Und zum 2. Saisonfinale ein besonderer Dank an Cenk und sein Bistro Cockpit, der für alle Künstlerinnen und Künstler nicht nur, wie jedesmal, kostenlos Getränke zur Verfügung gestellt hatte, sondern auch jedem ein kostenloses Essen spendierte, da unsere Sponsorenpizzeria zurzeit renoviert wird und geschlossen hat. Das ist nicht selbstverständlich. Danke, Cenk, alter Kunst-Mäzen. Reichelsheim braucht jemanden wie dich.

So viel dazu. Lasst es euch gut gehen und bleibt uns treu. Wir sehen uns im Oktober wieder.
Euer Poetry Slam Reichelsheim