Lena vor den hungrigen Hundert |
Als James Hatfield am Vorabend anrief und mich zu seinem
Geburtstag einlud, sagte ich: „Hey, Alter, danke, ich weiß es ist ein runder,
aber ich kann nicht. Ich moderiere das Poetry-Slam-Saisonfinale in
Reichelsheim.“ Er sagte dann noch: „Ride the Lightning!“, und ich antwortete
ihm: „Ich hoffe nicht!“ Dann legten wir beide auf. Er reduzierte die bestellte
Menge bunter Partyhütchen um eins und ich schaute nochmal in den Wetterbericht
und hoffte, James würde nicht recht behalten. Behielt er nicht, denn das Gewitter
blieb Reichelsheim fern und bei 30 Grad und Sonne begann sich am Abend des 3.
Augusts der Beach Club des Bistro Cockpit in Reichelsheim langsam zu füllen. Unter freiem Himmel und auf grasbegrünter Bühne, umweht von
einer leichten Brise, traten sodann neun Dichterinnen und Dichter aus dem ganzen
Bundesland, größtenteils Finalistinnen und Finalisten der vorangegangenen
Veranstaltungen, an, um letztlich annähernd 100 Gäste mit erfrischenden Lyrikwinden
bis hin zu wortgewitternden Dichtkunstorkanen zu umwehen.
Soerens Lyrik aus dem Smartphone |
Die erste von drei Vorrunden bestritten Lena Brandt aus
Großkrotzenburg, Klaus Urban aus Stadthagen und Soeren Franz aus Bad Nauheim.
Lena startete mit einem Text über die Vielfältigkeit, die eine einzelne Person
aufweisen kann. Hierbei merkte man ihr ihre Pause, die sie bis zum Abschluss
ihrer Abiturprüfung hatte, deutlich an. Charmant erklärte sie dem Publikum,
dass sie jedoch keineswegs zittere, sie sei vielmehr eine menschliche Espe.
Ihren Auftritt schloss Lena mit einem sehr intensiven Text über ihre Gedanken
beim Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Auschwitz. Klaus begann mit der lang
gehüteten Preisgabe verschollener Anagramme zu Reichelsheim - Heimlicheres
hatte nie zuvor jemand vernommen -, und schloss mit einer
poetisch-philosophischen Auseinandersetzung mit Boogie-Woogie. Sören vereinte
mit seinen zwei Beiträgen klassische Lyrik mit moderner Technik und übertrug
die in Bits und Bytes auf seinem Smartphone gespeicherten Gedichte „Prima Ballerina“
und „Spieglein im Badezimmer“ in Schallwellen. Der Applausentscheid des
Publikums, der in Ermangelung einer ausreichenden Anzahl an Tischen zur
Durchführung der gewohnten Tischbewertung durchgängig in jeder Vorrunde und im
Finale durchgeführt wurde, war knapp und letztlich durch den Moderator Andreas
Arnold, der sich hier in der dritten Person nennt, obwohl er Autor des Textes
ist und bereits in der ersten Person eingeleitet hatte, kaum eindeutig
unterscheidbar. Letztlich entschied er sich (ich) für einen Doppelfinaleinzug
von Lena und Klaus.
Gitarre mit Luca im Hintergrund |
In der zweiten Vorrunde starteten Luca Del Nero aus Bad
Nauheim, Thorsten Zeller aus Friedberg und Jens Wienand aus Mannheim. Luca
widmete seinen satirischen Text, in dem er sich zur Bundestagswahl als Partei
und Multifunktionär in einer Person mitsamt dazugehörigem Parteiprogramm anbot,
der Satiresendung „Scheibenwischer“, was nicht zu überhören war. Thorsten
konterte mit einem Sommergedicht, das primär von der Plage durch sechs- und
achtbeinige, überwiegend geflügelte Endoskelettträger handelte. Vermutlich war
er es, der später, bei Einbruch der Dunkelheit, selbige auch angelockt hatte,
doch dazu später mehr. Jens schloss die Vorrunde mit einem durch live in sein
zusammengerolltes Textpapier getrötete Filmmusik eingeleiteten Text über den
Anbeginn der Zeit und den Anbeginn der menschlichen Dummheit. Durchsetzen
konnte sich letztlich Jens, der den anhaltendsten, Freudenpfiffe
durchwirktesten Applaus auf sich verbuchen konnte.
Sergio von VZG beim Solo |
Die anschließende Pause wurde, wie auch schon die Eröffnung
der Veranstaltung, durch die begeisternde Musik der Friedberger Band „Vorstadt
zum Garten“ kurzweilig und unterhaltsam gemacht. Sie trommelten, zupften,
klimperten, tröteten und sangen, was das Zeug hielt, und mischten zu den
sommerlichen Temperaturen und den Urlaubsstimmung fördernden Strandliegen auf
echtem Türkische-Riviera-Sand, den Bistro-Chef Cenk aus seinen Urlauben peu à
peu mitgebracht und im Beach Club aufgeschichtet hatte, noch heißeste feriengefühlsverstärkende
Klänge. Nur mit Mühe konnte ich (er, der Moderator) den vielfachen Ruf nach
einer Zugabe niederringen, um mit der dritten Vorrunde starten zu können.
Marco mit verglühender Mücke |
In der anschließenden dritten und letzten Vorrunde traten
Lukas Lazarewitsch aus Frankfurt am Main, Marco Michalzik aus Herborn und Aaron
Schmitt aus Karlsruhe gegeneinander um die Gunst und den entlohnenden Applaus
des Publikums an. Lukas trug einen sozialkritischen Text über Menschen vor, die
zum Opfer ihrer eigenen Situation gemacht werden. Marco folgte mit einem
Plädoyer für Menschlichkeit und befasste sich lyrisch mit dem schweren Thema
Kinderprostitution und philosophisch mit der Frage, weshalb das Leben zu
manchen so ungerecht ist. Während dessen veranstalteten die zahlreichen von
Thorsten lyrisch angelockten Steckmücken ein Grillfest im als Leselicht
installierten Deckenfluter. Mit sich selbst als Grillgut. Stichwort: Selbsthass
(Exklusives Stichwort für die, die dabei waren). Den Abschluss der Vorrunden
machte Aaron, der dieses mal nicht erst in das Odenwälder Reichelsheim gefahren
war, um zu uns zu gelangen. Er plapperte scheinbar unsicher vor sich hin und
entlockte manch einem im Publikum ein erhellendes Schmunzeln als realisierbar
wurde, dass das unsichere Plappern Thema seines Textes war und selbiges nur ein
Stilmittel und nicht Aarons Eigenart. Dafür erhielt Aaron auch den meisten
Applaus und hatte sich so als letzter Teilnehmer ins Finale geplappert.
Jens mit rauchenden Schwärmen |
Lena eröffnete das Finale mit einem Text über die Erfüllung
von Erwartungshaltungen und schloss mit einem zweiten über die Wortkarg- und
Unverstandenheit von endenden Beziehungen. Klaus folgte mit zwei Stücken aus
seiner Kurzromanreihe und ließ mit „Liebe ist eine Tätigkeit“ ein Wortfeuerwerk
auf das Publikum los. Als Dritter startete Jens ins Finale und referierte humorvoll,
doch nachdenklich stimmend über die Fragwürdigkeit unserer Systeme. Den
Abschluss machte Aaron mit einem Gedicht für alle, denen es an Zeit und Geld
mangelt und die so auf der Stelle zu reisen gezwungen sind. Die Finaltexte
waren allesamt hoch unterhaltsam und qualitativ sehr ausgereift, so dass es erneut
wiederholter Applauseinforderungen durch den Moderator bedurfte, bis eine
Publikumsentscheidung festgestellt werden konnte. Der dritte Platz ging nach
Stadthagen, der zweite nach Karlsruhe und die Trophäe für den ersten Platz des
diesjährigen Saisonabschlusses mit Jens Wienand nach Mannheim. Auch hier zur
Erinnerung an die beinahe erfolgte Fehlentscheidung des Saisonsieges ein
kleiner Insider: Wenn der Moderator mit den Fingern eine Zwei zeigt und damit
den Applaus für den Ersten der beiden bis dahin den meisten Applaus auf sich
vereint Habenden einfordert und der Erste, der bei Applauseinforderung wie auch
der Zweite mit dem Rücken zum applaudierenden Publikum stehen musste, eine Zwei
zeigt, weil er den zweiten Applaus für den lautesten erachtet hatte, dann ist,
wenn auch mathematisch richtig, zwei nicht gleich zwei, sondern eins. Das
versteht jetzt zwar niemand, der nicht dabei war, und ich selbst bin auch immer
noch völlig verwirrt darüber, aber die, die dabei waren, werden sich erinnern,
lachend auf ihre Schenkel klopfen und zu sich selbst sagen: „Ja, da hat er
einen gerissen, der Herr Moderator, und beinahe den Zweitplatzierten zum Sieger
erklärt!“, und der Herr Moderator wird daraufhin kräftig mit auf die eigenen
klopfen und dem zustimmen.
Siegerehrung im Dunkel mit Trophäen |
Unsere neue Saison startet am 11. Oktober 2013 im Bistro
Cockpit. Wer mehr Bilder des schönen Abends sehen will, ist eingeladen, unsere
Facebook Seite zu besuchen. Und abschließend auch noch ein Wort zur Veranstaltung selbst: Die Veranstaltung
ist und bleibt gemeinnützig. Wir wollen Künstler und Kunst fördern, und deshalb
kommt alles, was wir einnehmen, den Künstlern und der Kunst zugute: Fahrtgeld,
freie Kost und Logis, Workshops, eine kleine Gage, wenn was übrig ist. Deshalb
hier an dieser Stelle einen ausdrücklichen Dank an unsere Sponsoren, ohne die
eine solche Veranstaltung auf dem Land kaum möglich wäre. Danke, Danke, Danke.
Und zum 2. Saisonfinale ein besonderer Dank an Cenk und sein Bistro Cockpit,
der für alle Künstlerinnen und Künstler nicht nur, wie jedesmal, kostenlos
Getränke zur Verfügung gestellt hatte, sondern auch jedem ein kostenloses Essen
spendierte, da unsere Sponsorenpizzeria zurzeit renoviert wird und geschlossen
hat. Das ist nicht selbstverständlich. Danke, Cenk, alter Kunst-Mäzen.
Reichelsheim braucht jemanden wie dich.
So viel dazu. Lasst es euch gut gehen und bleibt uns treu.
Wir sehen uns im Oktober wieder.
Euer Poetry Slam Reichelsheim