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Samstag, 27. Oktober 2012

6. Poetry Slam im Cockpit; Flugbericht


Ben Scholz zupft vor dem Slam
Der 26. Oktober ist der österreichische Nationalfeiertag. Er wird seit dem Jahr 1965 jährlich begangen. Doch was nutzt einem das, wenn man weder Österreicher ist, noch mit Nationalem etwas am Hut hat? Da geht man doch lieber ins Cockpit und lässt sich bei einem Glas Rotem von feiner Slam Poetry verzaubern. Das müssen sich auch die zahlreichen Gäste an besagtem Abend gedacht haben und besetzten auch den letzten freien Stuhl. Vielleicht war aber auch doch ein Österreicher darunter. Wer weiß? Jedenfalls dichteten und performten sich am Freitagabend des 26. Oktobers 2012 zwölf junge und jung gebliebene Bühnenpoetinnen und -poeten aus ganz Deutschland die Seele aus dem Leib, um o. g. Nationalfeiertag mal so richtig zu zeigen, wie man sich feiert. Unterstützt wurden sie dabei von Ben Scholz (Gießen), der mit der Gitarre und seiner Stimme vor dem Slam und in der Pause zeigte, was kein Alpenhorn nachzumachen vermag.


Lena Noske liest
In der ersten Vorrunde starteten Ron Papo (Hachenburg), Lena Brandt (Großkrotzenburg), Lena Noske (Marburg) und Kadda Kannmichmal (Rodgau). Ron startete mit einer sozialkritischen Weltbetrachtung, gefolgt von Lena mit zwei Texten über oberflächliche Fröhlichkeit und hinter jedem Trend her Reisende. Im Anschluss startete die zweite Lena des Abends und berichtete vom allseits bekannten Phänomen, dass sich Schreibblockaden meist dann überraschend lösen, wenn man eigentlich müde ist und zu Bett will. Den Schluss bildete Kadda Kannmichmal und versetzte uns in das Innere eines Pornokinos, einer Begegnungsstätte, die in ihrem Text jedenfalls mehr Wahres, Gutes und Echtes zutage förderte, als man es annehmen mag. Mit klarem Vorsprung setzte sich Lena Brandt durch und zog so als Erste ins Finale.

Egon spielt mit Worten
In der zweiten Runde unterhielten Mary Grebner (Bad Nauheim), Carsten Nagels (Frankfurt am Main), Egon Alter (Darmstadt) und Sebastian Hahn (Bremen) das begeisterte Publikum. Mary, inzwischen eine Art Veteranin des Reichelsheimer Poetry Slams, startete mit vier gereimten Gedichten, gefolgt von Carsten, der uns erneut mit zahlreichen Aphorismen zum Nachdenken und schmunzeln brachte. Egon konterte mit Wortspielen, die an intelligentem Wortwitz und Orginalität kaum zu überbieten waren. Letztlich entschied jedoch Sebastian mit seinem humoristischen Text über einen in Kindertagen selbst gemalten Weihnachtsmann und der hoffentlich fiktiven Reaktion seiner rüden Großmutter auf das geschenkte Werk die meisten Tischbewertungen für sich.  

Nach Performance am Boden: Luca
In der dritten Charge traten Lukas Thomann (Eschbronn), Sandra Stelzenmüller (Frankfurt am Main), Vorwiegendinmoll (Bremen) und Luca Del Nero (Bad Nauheim) um die Gunst des Publikums gegeneinander an. Lukas begann mit einem zynischen und von Seitenhieben auf das männliche Selbstverständnis in manchen tragischen Beziehungen gespickten Text über eine gewaltgeprägte Liebe, die den Tod letztlich überdauerte. Allerdings nur physisch. Und zum Glück durch Zersetzung nicht allzu lange. Sandra folgte mit einem leider viel zu kurzen Gedicht – ich hätte gerne mehr davon gehört – und bildete damit einen zeitlich starken Kontrast zu ihrer Fahrtzeit von Frankfurt nach Reichelsheim im ÖPNV; sie schaffte es nach einem zwar rechtzeitig erwischten Zug, der aber leider der falsche war, erst kurz vor ihrem Auftritt zu uns (und zwar mit einem Taxi). Letztlich lief es auf ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen (zwar besser: Verszeile-an-Verszeile-Rennen; ist aber zu lang, um die Spannungskurve dieses Bericht oben halten zu können) hinaus, in dem sich am Ende Vorwiegendinmoll mit seinem Text über dessen chinesische und deutsche Seite, die ihn zwischen Asiawochen im Burgerladen und 324 Meter hohen Gartenzwergen schwanken lassen, gegen Lucas theaterreife Darbietung seiner zeitgenössischen Umsetzung von Goethes Faust durchsetze.  

von links: Vorwiegendinmoll, Lena, Seb und Andreas
Im Finale traten die drei Qualifizierten mit jeweils einem zweiten Text direkt gegeneinander an. Der Applausentscheid des Publikums setzte Lena mit „Leute wie du“ und Vorwiegendinmoll mit „Sex“ auf einen gemeinsamen sehr guten zweiten Platz. Den klaren ersten Platz und ersten Sieg der Saison 2012/2013 erlangte Sebastian mit dem Text „Tetris, Level 86“. Doch wie auch im letzten Jahr sind alle Finalisten gleichermaßen Sieger, laden wir sie doch im August zu unserem zweiten Open-Air-Saisonfinale ein. Daher waren die Preise auch für alle drei gleich: Je eine Flasche Sekt und ein schönes Cockpit-Shirt. Letzteres jeweils in XL, was beweist, dass sich der Humor der Veranstaltung auch im Anschluss noch weiterträgt. In aller zufälligen Doppeldeutigkeit.

Märchenonkel zwischendurch
Der nächste Poetry Slam in Reichelsheim wird am Dienstag, dem 11. Dezember, im Cockpit stattfinden; auch wieder mit musikalischer Begleitung. Wen zuvor die Sehnsucht packt, kann am 3. November, 20:00 Uhr, zu „Friedberg gruselt!“ in den Ticket-Shop kommen, wo Lena Noske und unser Moderator Andreas Arnold Gruseliges vortragen. Weiter spielen großartige lokale Bands dort. Auch unsere Partnerslams werden bis zum nächsten Mal in Reichelsheim wieder veranstalten: Am 9. November findet der 4. Karbener Kulturscheunen Slam und am 30. November das 10. Mal Poetry im Pastis in Friedberg statt. Keine Saure-Gurken-Zeit also für Freunde der kompetitiven Lyrik.

Bleibt uns gewogen, viele Grüße und bis bald
Euer Poetry Slam Reichelsheim