Ben Scholz zupft vor dem Slam |
Der 26. Oktober ist der österreichische
Nationalfeiertag. Er wird seit dem Jahr 1965
jährlich
begangen. Doch was nutzt
einem das, wenn man weder Österreicher ist, noch mit Nationalem etwas am Hut
hat? Da geht man doch lieber ins Cockpit und lässt sich bei einem Glas Rotem von
feiner Slam Poetry verzaubern. Das müssen sich auch die zahlreichen Gäste an
besagtem Abend gedacht haben und besetzten auch den letzten freien Stuhl.
Vielleicht war aber auch doch ein Österreicher darunter. Wer weiß? Jedenfalls
dichteten und performten sich am Freitagabend des 26. Oktobers 2012 zwölf junge
und jung gebliebene Bühnenpoetinnen und -poeten aus ganz Deutschland die Seele
aus dem Leib, um o. g. Nationalfeiertag mal so richtig zu zeigen, wie man sich
feiert. Unterstützt wurden sie dabei von Ben Scholz (Gießen), der mit der
Gitarre und seiner Stimme vor dem Slam und in der Pause zeigte, was kein
Alpenhorn nachzumachen vermag.
Lena Noske liest |
In der ersten Vorrunde starteten Ron Papo (Hachenburg), Lena
Brandt (Großkrotzenburg), Lena Noske (Marburg) und Kadda Kannmichmal (Rodgau). Ron
startete mit einer sozialkritischen Weltbetrachtung, gefolgt von Lena mit zwei
Texten über oberflächliche Fröhlichkeit und hinter jedem Trend her Reisende. Im
Anschluss startete die zweite Lena des Abends und berichtete vom allseits
bekannten Phänomen, dass sich Schreibblockaden meist dann überraschend lösen,
wenn man eigentlich müde ist und zu Bett will. Den Schluss bildete Kadda
Kannmichmal und versetzte uns in das Innere eines Pornokinos, einer
Begegnungsstätte, die in ihrem Text jedenfalls mehr Wahres, Gutes und Echtes
zutage förderte, als man es annehmen mag. Mit klarem Vorsprung setzte sich Lena
Brandt durch und zog so als Erste ins Finale.
Egon spielt mit Worten |
In der zweiten Runde unterhielten Mary Grebner (Bad
Nauheim), Carsten Nagels (Frankfurt am Main), Egon Alter (Darmstadt) und
Sebastian Hahn (Bremen) das begeisterte Publikum. Mary, inzwischen eine Art
Veteranin des Reichelsheimer Poetry Slams, startete mit vier gereimten
Gedichten, gefolgt von Carsten, der uns erneut mit zahlreichen Aphorismen zum
Nachdenken und schmunzeln brachte. Egon konterte mit Wortspielen, die an intelligentem
Wortwitz und Orginalität kaum zu überbieten waren. Letztlich entschied jedoch
Sebastian mit seinem humoristischen Text über einen in Kindertagen selbst
gemalten Weihnachtsmann und der hoffentlich fiktiven Reaktion seiner rüden
Großmutter auf das geschenkte Werk die meisten Tischbewertungen für sich.
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Nach Performance am Boden: Luca |
In der dritten Charge traten Lukas Thomann (Eschbronn),
Sandra Stelzenmüller (Frankfurt am Main), Vorwiegendinmoll (Bremen) und Luca
Del Nero (Bad Nauheim) um die Gunst des Publikums gegeneinander an. Lukas
begann mit einem zynischen und von Seitenhieben auf das männliche
Selbstverständnis in manchen tragischen Beziehungen gespickten Text über eine
gewaltgeprägte Liebe, die den Tod letztlich überdauerte. Allerdings nur physisch.
Und zum Glück durch Zersetzung nicht allzu lange. Sandra folgte mit einem
leider viel zu kurzen Gedicht – ich hätte gerne mehr davon gehört – und bildete
damit einen zeitlich starken Kontrast zu ihrer Fahrtzeit von Frankfurt nach Reichelsheim im ÖPNV; sie schaffte
es nach einem zwar rechtzeitig erwischten Zug, der aber leider der falsche war,
erst kurz vor ihrem Auftritt zu uns (und zwar mit einem Taxi). Letztlich lief
es auf ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen (zwar besser:
Verszeile-an-Verszeile-Rennen; ist aber zu lang, um die Spannungskurve dieses
Bericht oben halten zu können) hinaus, in dem sich am Ende Vorwiegendinmoll mit seinem
Text über dessen chinesische und deutsche Seite, die ihn zwischen Asiawochen im
Burgerladen und 324 Meter hohen Gartenzwergen schwanken lassen, gegen Lucas
theaterreife Darbietung seiner zeitgenössischen Umsetzung von Goethes Faust
durchsetze.
von links: Vorwiegendinmoll, Lena, Seb und Andreas |
Im Finale traten die drei Qualifizierten mit jeweils einem
zweiten Text direkt gegeneinander an. Der Applausentscheid des Publikums setzte
Lena mit „Leute wie du“ und Vorwiegendinmoll mit „Sex“ auf einen gemeinsamen
sehr guten zweiten Platz. Den klaren ersten Platz und ersten Sieg der Saison
2012/2013 erlangte Sebastian mit dem Text „Tetris, Level 86“. Doch wie auch im
letzten Jahr sind alle Finalisten gleichermaßen Sieger, laden wir sie doch im August zu unserem zweiten Open-Air-Saisonfinale ein. Daher waren die Preise auch für alle drei gleich: Je eine
Flasche Sekt und ein schönes Cockpit-Shirt. Letzteres jeweils in XL, was
beweist, dass sich der Humor der Veranstaltung auch im Anschluss noch
weiterträgt. In aller zufälligen Doppeldeutigkeit.
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Märchenonkel zwischendurch |
Der nächste Poetry Slam in Reichelsheim wird am Dienstag,
dem 11. Dezember, im Cockpit stattfinden; auch wieder mit musikalischer
Begleitung. Wen zuvor die Sehnsucht packt, kann am 3. November, 20:00 Uhr, zu „Friedberg
gruselt!“ in den Ticket-Shop kommen, wo Lena Noske und unser Moderator Andreas
Arnold Gruseliges vortragen. Weiter spielen großartige lokale Bands dort. Auch
unsere Partnerslams werden bis zum nächsten Mal in Reichelsheim wieder veranstalten:
Am 9. November findet der 4. Karbener Kulturscheunen Slam und am 30. November das
10. Mal Poetry im Pastis in Friedberg statt. Keine Saure-Gurken-Zeit also für
Freunde der kompetitiven Lyrik.
Bleibt uns gewogen, viele Grüße und bis bald
Euer Poetry Slam Reichelsheim